NEUNUNDDREISSIG
Als wir alle unsere Zutaten beisammenhaben - nun ja, alles außer dem Quellwasser, dem Nativen Olivenöl Extra, den langen, spitz zulaufenden weißen Kerzen (die Lina merkwürdigerweise ausgegangen waren, obwohl sie doch eigentlich das Normalste von allem waren, was ich verlangt habe), der Orangenschale und dem Foto von Damen, das ich von ihr auch gar nicht erwartet hätte - kehren wir zu meinem Auto zurück.
Ich schließe gerade die Tür auf, da sagt Ava: »Ich glaube, ich gehe zu Fuß nach Hause; es ist ja gleich um die Ecke.« »Bist du sicher?«
Sie breitet die Arme aus, als wollte sie die Nacht umarmen. Ihre Lippen verziehen sich zu einem Grinsen. »Es ist so schön draußen«, antwortet sie, »das will ich genießen.«
»So schön wie im Sommerland?«, frage ich, während ich mir überlege, was wohl diese plötzlichen Glücksgefühle ausgelöst hat, denn schließlich war sie in Linas Hinterzimmer noch ganz ernst.
Sie lacht, den Kopf in den Nacken geworfen, den bleichen Hals entblößt, ehe sie den Blick wieder auf mich richtet und sagt: »Keine Sorge. Ich habe nicht vor, aus meinem normalen Leben auszusteigen und ganz dorthin zu ziehen. Aber es ist einfach schön, den Zugang zu haben, wenn ich eine kleine Auszeit brauche.«
»Pass auf, dass du nicht zu oft hingehst«, ermahne ich sie und wiederhole damit die gleiche Warnung, die Damen einst an mich gerichtet hat. »Sommerland macht süchtig«, füge ich hinzu. Als ich sehe, wie sie sich die Arme um den Körper schlingt und mit den Schultern zuckt, weiß ich, dass ich mir die Worte hätte sparen können, da sie garantiert so bald und so oft wie möglich wieder hinreisen wird.
»Und, hast du alles, was du brauchst?«
Ich nicke und lehne mich gegen die Autotür. »Den Rest besorge ich auf dem Nachhauseweg.«
»Und du bist dir sicher, dass du bereit bist?« Sie sieht mich an, und ihre Miene ist auf einmal wieder ernst und angespannt. »Du weißt schon, das alles zurückzulassen? Damen zurückzulassen?«
Ich schlucke schwer und versuche, nicht daran zu denken. Lieber beschäftige ich mich mit etwas anderem, konzentriere mich darauf, eine Aufgabe nach der anderen zu erledigen, bis es morgen ist und ich mich verabschieden muss.
»Denn wenn etwas einmal geschehen ist, kann man es nicht mehr ungeschehen machen.«
Ich zucke die Achseln. »Das ist ja wohl offensichtlich falsch.« Sie neigt den Kopf zur Seite und lässt sich das rotbraune Haar ins Gesicht wehen.
»Aber das, wohin du zurückkehrst - dir ist doch klar, dass du wieder ganz normal sein wirst, oder? Du hast keinen Zugang mehr zu diesem Wissen, dir wird all das verborgen bleiben. Bist du sicher, dass du dahin zurückkehren willst?«
Ich sehe zu Boden und kicke ein Steinchen davon, statt sie anzusehen. »Also, ich will nicht lügen. Es geht alles so viel schneller, als ich gedacht hätte - und ich habe gehofft, ich hätte mehr Zeit, um ... um alles zu Ende zu bringen. Aber alles in allem, ja, ich glaube, ich bin bereit.« Ich halte inne, lasse die Worte, die ich gerade gesprochen habe, Revue passieren und weiß, dass sie nicht vermitteln konnten, was ich eigentlich gemeint habe. »Ich meine, ich weiß, dass ich bereit bin. Ja, ich bin definitiv bereit. Alles wieder zurechtzurücken und die Dinge wieder in Ordnung zu bringen ist nämlich - na ja, es scheint mir eben das Richtige zu sein, weißt du?«
Und obwohl ich das gar nicht wollte, hebt sich meine Stimme am Satzende, sodass es mehr wie eine Frage rüberkommt als wie die Aussage, die es sein sollte. Und so schüttele ich den Kopf und sage: »Ich habe gemeint, dass es absolut, total, einhundertprozentig das Richtige ist.« Nach kurzer Pause füge ich hinzu: »Warum sonst hätte ich wohl Zugang zur Akasha-Chronik bekommen?«
Ava sieht mich mit festem Blick an.
»Und außerdem - kannst du dir auch nur ansatzweise vorstellen, wie sehr ich mich darauf freue, wieder mit meiner Familie zusammen zu sein?«
Sie streckt die Arme nach mir aus und drückt mich fest an sich. »Ich freue mich ja so für dich«, flüstert sie. »Ganz ehrlich. Und obwohl ich dich vermissen werde, fühle ich mich geehrt, dass du mir zutraust, alles Weitere zu erledigen.«
»Ich weiß gar nicht, wie ich dir danken soll«, murmele ich, wobei sich meine Kehle wie zugeschnürt anfühlt.
Doch sie streicht mir nur mit der Hand übers Haar und sagt: »Glaub mir, du hast dich schon bedankt.«
Ich mache mich los und sehe mich um, sauge diese herrliche Nacht in dieser charmanten Stadt am Meer in mich auf und kann es kaum glauben, dass ich das alles aufgeben werde. Dass ich Sabine, Miles, Haven, Ava und Damen ebenso den Rücken kehren werde wie allem anderen hier, als hätte es nie existiert.
»Alles in Ordnung?«, fragt sie mit sanfter, weicher Stimme, während sie meine Miene studiert.
Ich nicke, räuspere mich und zeige auf die kleine violette Papiertüte zu ihren Füßen, auf der in Goldbuchstaben der Name des Ladens aufgedruckt ist: MYSTICS & MOON-BEAMS. »Bist du sicher, dass du genau weißt, wie du mit den Kräutern umgehen musst? Du musst sie kühl und dunkel lagern und darfst sie erst am allerletzten Tag - dem dritten Tag - zerkleinern und in das ... das rote Getränk geben.«
»Keine Sorge.« Sie lacht. »Was nicht hier drin ist« - sie hebt die Tüte hoch und drückt sie sich an die Brust -, »ist hier drin.« Sie zeigt auf ihre Schläfe und schmunzelt.
Ich nicke und ringe mit den Tränen, doch ich weigere mich zu weinen, da dies erst der Beginn einer Reihe von Abschieden ist. »Ich komme morgen bei dir vorbei und bringe den Rest«, sage ich. »Nur für den Fall, dass du die Sachen doch noch brauchst, was ich aber eigentlich nicht glaube.« Ich setze mich in mein Auto, lasse den Motor an und fahre davon. Ohne zum Abschied zu winken, ohne mich auch nur ein einziges Mal umzudrehen, fahre ich die Ocean Avenue hinab. Jetzt habe ich keine andere Wahl mehr, jetzt kann ich nur noch in die Zukunft blicken und mich darauf konzentrieren.
Nachdem ich die restlichen Sachen besorgt habe, schleppe ich die Tüten in mein Zimmer hinauf und kippe alles auf den Schreibtisch. Ungeduldig wühle ich mich durch Öle, Kräuter und Kerzen, begierig, an die Kristalle zu kommen, da die am meisten Arbeit erfordern werden. Sie alle müssen ihrer Art entsprechend in Schwingung versetzt werden, ehe sie in das bestickte Seidentäschchen gesteckt und hinausgelegt werden, um so viel Mondlicht wie möglich aufzusaugen. Inzwischen manifestiere ich Mörser und Stößel (weil ich das im Laden vergessen habe, aber da es nur ein Werkzeug und keine eigentliche Zutat ist, müsste es okay sein, die Sachen einfach zu manifestieren), damit ich einige der Kräuter pulverisieren und sie alle in (ebenso manifestierten) Bechern zum Kochen bringen kann, ehe ich all die Eisenerze, Mineralien und bunten Pulver dazugebe, die Lina in kleine Gläschen gefüllt und sorgfältig etikettiert hat. All das muss in sieben präzisen Schritten vollführt werden, beginnend mit dem Klingen der Kristallschale, die extra so gestimmt ist, dass sie auf dem siebten Chakra vibriert, damit sie Inspiration, Wahrnehmung über Raum und Zeit hinaus und eine ganze Menge anderer Dinge ermöglicht, die eine Verbindung zum Göttlichen herstellen. Beim Betrachten des Haufens von Zutaten, der sich vor mir auftürmt, steigt eine kleine Welle der Vorfreude in mir auf, weil ich weiß, dass jetzt, nach etlichen Fehlstarts, alles wieder ins Lot kommt.
Wenn ich sage, dass ich Angst hatte, ob ich alles an einem Ort finde, ist das weit untertrieben. Es standen so merkwürdige und unterschiedliche Dinge auf der Liste, dass ich mir nicht einmal sicher war, ob es das alles gibt, und so habe ich mich schon scheitern sehen, ehe ich überhaupt angefangen habe. Aber Ava hat mir nicht nur garantiert, dass Lina alles besorgen werde, sondern ich ihr auch vertrauen könne. Und obwohl ich mir hinsichtlich des letzten Teils noch immer nicht so sicher bin, hätte ich ja gar nicht gewusst, an wen ich mich sonst wenden sollte.
Doch mit der Zeit machte es mich nervös, wie Lina mich immer wieder von der Seite ansah und mich aus schmalen Augen fixierte, während sie die Pulver und Kräuter zusammensuchte. Als sie die Skizze in die Höhe hielt, die ich angefertigt hatte, und fragte: »Was hast du eigentlich vor? Ist das eine Art Alchemie?«, war ich sicher, dass ich einen Riesenfehler gemacht hatte.
Ava wollte schon einschreiten, als ich den Kopf schüttelte und mir ein Lachen abrang. »Na ja«, sagte ich, »wenn Sie Alchemie im ursprünglichsten Sinn meinen, also die Natur beherrschen, Chaos abwenden und das Leben auf unbestimmte Zeit hinaus verlängern« - eine Definition, die ich kurz zuvor auswendig gelernt hatte, als ich den Begriff nachgeschlagen hatte -, »dann nein, so große Pläne habe ich nicht. Ich probiere nur ein bisschen weiße Magie aus - um einen Zauber auszuüben, der mir bei den Prüfungen hilft, mir ein Date für den Abschlussball verschafft und vielleicht sogar meine Allergien kuriert, die jetzt ausbrechen werden, weil schon fast Frühling ist. Ich will ja nicht, dass meine Nase auf den Fotos vom Abschlussball knallrot ist und tropft, wissen Sie?«
Als ich gemerkt habe, dass ich sie nicht überzeugen konnte, vor allem in Bezug auf die Allergien, habe ich noch hinzugefügt: »Deshalb brauche ich auch den vielen Rosenquarz, da der ja Liebe bringen soll, ach, und dann noch den Türkis.« Ich zeigte auf ihren Anhänger. »Sie wissen ja, dass er für seine Heilkraft bekannt ist, und ...« Und obwohl ich noch stundenlang weiterreden und die Liste mit all den Dingen, die ich erst eine Stunde zuvor auswendig gelernt hatte, hätte herunterbeten können, habe ich an der Stelle Schluss gemacht und nur mit der Schulter gezuckt.
Nun packe ich die Steine aus, wiege jeden einzelnen von ihnen vorsichtig auf meiner Handfläche und stelle mir ein strahlendes weißes Licht vor, das sie bis ins Innerste durchdringt. So vollführe ich den unheimlich wichtigen Schritt des »Reinigens und Läuterns«, welcher Informationen aus dem Internet zufolge der erste Schritt ist. Der zweite besteht darin, sie (laut!) darum zu bitten, die mächtige Energie des Mondes aufzusaugen, damit sie die Aufgabe erfüllen können, für die die Natur sie vorgesehen hat.
»Türkis«, flüstere ich und sehe zur Tür, um mich zu vergewissern, dass sie fest verschlossen ist, während ich mir ausmale, wie peinlich es wäre, wenn Sabine hereinplatzen und mich dabei erwischen würde, wie ich eine Hand voll Steine bespreche. »Ich bitte dich zu heilen, zu reinigen und zu helfen, die Chakren auszubalancieren, wie es dir die Natur aufgetragen hat.« Dann hole ich tief Luft und durchdringe den Stein mit der Energie meiner Absichten, ehe ich ihn in die Tasche schiebe und nach dem nächsten greife. Ich komme mir albern und mehr als ein bisschen verlogen vor, aber ich weiß, dass mir nichts anderes übrig bleibt als fortzufahren.
Ich mache mit den geschliffenen Rosenquarzen weiter, indem ich jeden einzeln aufhebe und mit weißem Licht tränke, ehe ich viermal wiederhole: »Mögest du bedingungslose Liebe und unendlichen Frieden bringen.« Ich lasse sie nacheinander in das rote Seidentäschchen fallen und sehe zu, wie sie sich um den Türkis gruppieren, ehe ich nach dem Staurolithen greife - einem schönen Stein, der angeblich aus Elfentränen entstanden sein soll. Ich bitte ihn, mir alte Weisheit und Glück zu schenken und mir zu helfen, Verbindung zu den anderen Dimensionen herzustellen. Dann hole ich den großen Zoisiten heraus und nehme ihn in beide Hände. Nachdem ich ihn mit weißem Licht gereinigt habe, schließe ich die Augen und flüstere: »Mögest du alle negativen Energien in positive verwandeln, mögest du dabei helfen, eine Verbindung zu den mystischen Reichen herzustellen, und mögest du ...«
»Ever? Kann ich reinkommen?«
Ich sehe zur Tür und weiß, dass mich bloß dreieinhalb Zentimeter Holz von Sabine trennen. Ich schaue auf das Sammelsurium aus Kräutern, Ölen, Kerzen und Pulvern und auf den Stein in meiner Hand, den ich gerade bespreche.
»Und bitte hilf bei der Genesung von Krankheiten und was sonst noch in deiner Macht steht!«, flüstere ich und schiebe ihn in das Täschchen, kaum dass ich zu Ende gesprochen habe.
Nur, dass er nicht hineinpasst.
»Ever?«
Ich versetze ihm erneut einen Stoß und versuche, ihn mit Gewalt hineinzuquetschen, doch die Öffnung ist so klein und der Stein so groß, dass ich das nicht schaffen werde, ohne die Nähte aufzureißen.
Sabine klopft erneut, dreimal schnell hintereinander, womit sie mir signalisiert, dass sie weiß, dass ich da bin, weiß, dass ich etwas im Schilde führe und dass ihr langsam die Geduld ausgeht. Und obwohl ich keine Zeit zum Plaudern habe, bleibt mir nichts anderes übrig, als »Ähm, einen Moment bitte!« zu rufen. Ich ramme den Stein in das Täschchen, laufe auf den Balkon und lege es auf einen kleinen Tisch, der direkt vom Mond beschienen wird, ehe ich wieder hineinstürme und fast einen Nervenzusammenbruch kriege, als Sabine schon wieder klopft. Ich sehe, in welchem Zustand mein Zimmer ist - betrachte es mit ihren Augen und weiß, dass die Zeit nicht reicht, um etwas daran zu ändern.
»Ever? Alles in Ordnung?«, ruft sie, in ebenso verärgertem wie besorgtem Tonfall.
»Ja, ich habe nur gerade ...« Ich packe mein T-Shirt am Saum, zerre es mir über den Kopf und rufe mit dem Rücken zur Tür: »Ähm, du kannst jetzt reinkommen ... Ich wollte nur gerade ...« Und genau in dem Moment, als sie hereinkommt, ziehe ich es wieder an und tue so, als wäre ich plötzlich schamhaft geworden und fände es unangenehm, mich vor ihr umzuziehen, obwohl es mir bisher nie etwas ausgemacht hat. »Ich ... Ich habe mich nur gerade umgezogen«, murmele ich, während sie mich mit zusammengekniffenen Brauen mustert und nach Geruchsspuren von Marihuana, Alkohol und Nelkenzigaretten sucht oder wovor ihr neuester Erziehungsratgeber für Teenager sie sonst gewarnt haben mag.
»Du hast etwas auf dem ...« Sie zeigt auf die Vorderseite meines T-Shirts. »Etwas Rotes, das - na ja -, das wahrscheinlich nicht mehr rausgehen wird.«
Sie verzieht den Mund, während ich auf mein T-Shirt herabblicke, auf dem ein breiter roter Streifen zu sehen ist, der eindeutig von dem Pulver herrührt, das ich für das Elixier brauche. Die Tüte, in der es drin ist, muss einen Riss haben, denn nun sehe ich, dass auch mein Schreibtisch und der Fußboden darunter etwas davon abbekommen haben.
Toll. Und da tust du so, als hättest du gerade ein frisches T-Shirt angezogen!, denke ich, während Sabine auf mein Bett zugeht, sich mit dem Mobiltelefon in der Hand auf die Kante setzt und die Beine übereinanderschlägt. Ich brauche nur einen Blick auf den verschwommenen rötlichen Schimmer ihrer Aura zu werfen, um zu wissen, dass ihr besorgter Blick weniger mit meinem scheinbaren Mangel an sauberen Klamotten zu tun hat als mit mir persönlich - meinem seltsamen Benehmen, meiner zunehmenden Heimlichtuerei und meinen Essgewohnheiten, was alles zusammengenommen in ihren Augen zwangsläufig zu nichts Gutem führen kann.
Ich bin so darauf fixiert, wie ich ihr all das erklären soll, dass ich völlig überrumpelt bin, als sie fragt: »Ever, hast du heute die Schule geschwänzt?«
Ich erstarre, während sie meinen Schreibtisch mustert und das Durcheinander aus Kräutern, Kerzen, Olen und Mineralien und allem möglichen anderen sonderbaren Zeug betrachtet, das sie nicht kennt - oder zumindest nicht in dieser Zusammenstellung -, als erfüllten die Sachen einen Zweck, als wäre die Anordnung weit weniger zufällig, als sie scheint.
»Ähm, ja. Ich hatte Kopfschmerzen. Aber es ist nicht so schlimm.« Ich lasse mich auf meinen Schreibtischstuhl fallen und drehe mich hin und her, in der Hoffnung, sie von dem Anblick abzulenken.
Sie sieht zwischen dem großen alchemistischen Experiment und mir hin und her und will gerade etwas sagen, als ich ihr zuvorkomme. »Also, ich meine, jetzt ist es nicht mehr so schlimm, seit die Schmerzen weg sind. Aber glaub mir, vorher war es schlimm. Ich hatte mal wieder meine Migräne. Du weißt doch, dass ich die manchmal kriege?«
Ich komme mir vor wie die mieseste Nichte der Welt -eine undankbare Lügnerin und eine verschlagene Dummschwätzerin zugleich. Sie hat keine Ahnung, wie froh sie sein kann, dass sie mich bald los ist.
»Vielleicht liegt es daran, dass du nicht genug isst.« Sie seufzt, streift die Schuhe ab und mustert mich eingehend. »Aber trotzdem wächst du immer weiter wie Unkraut. Du bist schon wieder größer als vor ein paar Tagen!«
Ich sehe zu meinen Knöcheln hinab und stelle entsetzt fest, dass meine frisch manifestierte Jeans seit heute Morgen drei Zentimeter kürzer geworden ist.
»Warum bist du nicht zur Schulkrankenschwester gegangen, wenn du dich nicht wohl gefühlt hast? Du weißt doch, dass du nicht einfach so davonlaufen darfst.«
Ich sehe sie an und würde ihr am liebsten sagen, sie soll sich keinen Stress machen und keine Sekunde damit vergeuden, sich deswegen zu sorgen, da es ohnehin bald vorbei sein wird. Denn sosehr sie mir auch fehlen wird, ihr Leben wird auf jeden Fall besser werden. Sie hat etwas Besseres verdient als das. Etwas Besseres als mich. Und es freut mich, dass sie bald ein wenig Ruhe haben wird.
»Die ist eine kleine Quacksalberin«, sage ich. »Eine richtige Aspirintante, und du weißt ja, dass das bei mir nicht wirkt. Ich musste einfach nach Hause fahren und mich eine Weile hinlegen. Das ist das Einzige, was hilft. Also bin ich gegangen.«
»Und hast du's dann gemacht?« Sie beugt sich zu mir. »Bist du nach Hause gefahren?« Sowie sich unsere Blicke begegnen, weiß ich, dass es eine Herausforderung ist. Ein Test.
»Nein.« Ich seufze und schaue auf den Teppich, während ich symbolisch die weiße Fahne schwenke. »Ich bin zum Canyon gefahren und habe ...«
Sie mustert mich und wartet.
»Und da habe ich mich ein bisschen vertrödelt.« Ich hole tief Luft und schlucke schwer, da ich weiß, dass ich der Wahrheit nicht näher kommen darf.
»Ever, ist es wegen Damen?«
Und sowie ich ihr in die Augen sehe, verliere ich die Beherrschung und breche in Tränen aus.
»Ach du liebe Zeit«, sagt sie leise und breitet die Arme aus, woraufhin ich vom Stuhl aufspringe und mich in die Umarmung fallen lasse. Da ich noch nicht an meine neue schlaksige Figur gewöhnt bin, stelle ich mich dermaßen ungeschickt an, dass ich sie beinahe zu Boden werfe.
»Entschuldige«, sage ich. »Ich ...« Doch ich kann nicht zu Ende sprechen. Eine zweite Tränenflut überkommt mich, und ich schluchze erneut.
Sie streichelt mir übers Haar, während ich immer weiterweine. »Ich weiß, wie sehr er dir fehlt«, sagt sie. »Ich weiß, wie schlimm das sein muss.«
Doch sowie sie es ausgesprochen hat, weiche ich zurück. Ich habe ein schlechtes Gewissen, weil ich so tue, als ginge es um Damen, obwohl es in Wahrheit nur zum Teil um ihn geht. Es geht auch darum, dass ich meine Freunde vermisse - in Laguna Beach und in Oregon. Und darum, dass ich mein Leben vermisse - das Leben, das ich mir hier aufgebaut habe, und das, zu dem ich bald zurückkehren werde. Denn obwohl auf der Hand liegt, dass sie ohne mich besser dran sind, und zwar ausnahmslos alle, Damen eingeschlossen, macht es das nicht die Spur leichter.
Doch es muss sein. Es gibt keine andere Wahl.
Und wenn ich auf diese Art daran denke, wird es irgendwie leichter. Denn in Wirklichkeit habe ich, ganz gleich aus welchem Grund, eine sagenhafte Gelegenheit bekommen, wie man sie nur einmal im Leben kriegt.
Aber jetzt ist es Zeit, nach Hause zurückzukehren.
Ich wünschte nur, ich hätte ein bisschen mehr Zeit zum Abschiednehmen.
Als der Gedanke daran eine neue Tränenflut mit sich bringt, umarmt Sabine mich fester und flüstert aufmunternde Worte, während ich mich an sie klammere, geborgen im Kokon ihrer Umarmung, wo sich alles sicher anfühlt -und warm - und richtig - und ungefährlich.
Als ob alles wieder gut wird.
Und während ich mich mit geschlossenen Augen enger an sie kuschele, das Gesicht in der Stelle vergrabe, wo ihre Schulter in den Hals übergeht, bewege ich leicht die Lippen und wispere ein stilles Auf Wiedersehen.